- loehde
Ich kann einfach nicht mehr...
Sehr verehrte Leserin, sehr geehrter Leser!
In vielen Briefen von Patienten an mich taucht gewissermaßen „zwischen den Zeilen“ ein gravierendes Problem auf. Dieses möchte ich Ihnen erläutern.
Die Refluxkrankheit mit ihren vielen Facetten bedeutet für viele Patienten ein „anderes Leben“! Verabredungen zum Essen, ein Glas Wein oder ein leckerer Nachtisch stellen schon besondere Herausforderungen dar. Lieber nur stilles Wasser trinken und höchstens eine Kleinigkeit essen. Sonst rächt sich der Abend in der folgenden Nacht und nicht selten sogar für mehrere Tage. Die Unbeschwertheit weicht aus dem Gesichtsausdruck eines Refluxpatienten hin zu ständiger Achtsamkeit und innerer Beobachtung. Der geübte Blick vermag dies rasch zu erkennen.
So ziehen sich ehemals lebhafte und gesellige Menschen aus der Gesellschaft zurück, erscheinen als Außenseiter. Das tägliche Leben wird auch beeinträchtigt durch den sog. foetor ex ore. Beim Reflux steigen nicht selten unangenehm riechende Gase aus dem Magen hoch, so dass es leicht zu Mundgeruch kommen kann. Viele Patienten bemerken dies selbst oder werden von ihrem Partner darauf aufmerksam gemacht. Eine Belastung nicht nur in der Partnerschaft sondern auch im Beruf bei engem Kundenkontakt. Aus Unsicherheit wendet man sich ab, scheut den zugewandten Blickkontakt und wirkt distanziert, obwohl man so gar nicht sein möchte. Verständlicherweise entwickeln Patienten Tendenzen zur depressiven Verstimmung. Hinzu kommt, dass jede PPI-Tablette als Nebenwirkung ohnehin Depressionen auslösen kann.
Die Situation spitzt sich fatal zu, wenn die sog. „Ursachenforschung“ erfolgt. Eine schier unglaubliche Anzahl von Untersuchungen mit CT, MRT, Röntgen, EKG, Belastungs-EKG, Herzkatheter, Labor, Darm- und Magenspieglung, pH-Metrie, Sonografie, Manometrie, stationäre Abklärung und Vieles mehr wird erneut durchgeführt. Interessanterweise wird eine körperliche Untersuchung des Zwerchfells so gut wie nie(!) durchgeführt. Die Patienten überstehen alles mit Bravour in der Hoffnung, dass endlich die Ursache der Beschwerden gefunden wird.
Die gute Nachricht: Alle Untersuchungen zeigen, dass nichts „Schlimmes“ vorliegt. Die schlechte Nachricht: Ein Weg zur Heilung wurde nicht gefunden. Es bleibt erschöpfte Ratlosigkeit. Nicht selten kommt nun eine entscheidende Wende: Die Patienten werden auf antidepressive Medikamente eingestellt. Sie durchlaufen Therapiesitzungen in der Psychosomatik und psychosozialen Rehabilitationszentren bis hin zu stationären psychiatrischen Behandlungsversuchen. Selbstzweifel entstehen: „Bilde ich mir das vielleicht doch nur alles ein?“ Die Patienten verlieren Kraft und Lebensmut. Das Leben wird schwer mit der unterschwelligen Angst, ob sich hinter allem nicht doch z.B. eine schlimme Krebserkrankung verbirgt, die von den Ärzten übersehen worden ist.
Der Alltag macht aber auch vor diesen Patienten nicht halt. Sie müssen zur Arbeit, Leistung erbringen, ihr Leben mit der Familie meistern, trotz schlafloser Nächte und den kreisenden Gedanken um ihr Leiden. Es ist bewundernswert, wie es viele Patienten es schaffen, dennoch den Kopf über Wasser zu halten und das Beste daraus zu machen!
Andere hingegen werden durch die jahrelange Hoffnungslosigkeit der Situation geradezu erdrückt. Gedanken, das eigene Leben zu beenden, kommen hoch und werden wieder verworfen. So schrieb mir ein Patient:
„Sehr geehrter Herr Dr. Löhde, ich war jetzt 4 Monate krankgeschrieben wegen Burnout. Erschöpfung, Müdigkeit, Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeit... Ich bin alleinstehend und es ging einfach nichts mehr und ich wollt nicht mehr. Ich sah keinen Ausweg. Immer dieses erschöpft sein. Schon beim Treppensteigen und bergauf Gehen mit meinem Hund (auch bei geringster Steigerung) komme ich aus der Puste in meinem Alter. Mein Herz scheint gesund zu sein und meine Lungen auch. Wurde alles untersucht. Aber da ist immer dieser Druck in der Brust! Beim Aufwachen weiß ich schon, heute geht es wieder los. Das macht mich verrückt. Eine Laktoseintoleranz ist bestätigt; Fruktoseintoleranz auch, aber wohl weniger stark. Aber daher kann das doch nicht kommen. Ich ernähre mich inzwischen glutenfrei und achte auf alles möglich wegen meiner Verdauungsprobleme mit Völlegefühl, Aufstoßen, immer diese Luft im Bauch und Blähungen. Eine Zöliakie wurde vermutet aber bei der Magenspiegelung ausgeschlossen. Richtig schlafen kann ich schon längst nicht mehr. Nachts ist mir in diesem Monat schon zwei Mal Magensaft hochgekommen, so dass ich gefühlt kurz vorm Ersticken war. Ich bin aus dem Bett gesprungen und habe mich nicht mehr getraut, mich wieder hinzulegen. Es war schrecklich. Ich saß die ganze Nacht im Sessel und hatte Angst. Ich bin ja allein zuhause nur mit meinem Hund. Ich trau mich gar nicht mehr, normal im Bett einzuschlafen. Am Tag danach kamen wieder ganz besondere Halsschmerzen und diese heisere Stimme, als wenn ich jeden Tag trinken und rauchen würde. Meine Nachbarn vermuten das sowieso schon. Aber das habe ich ewig nicht mehr. Das halte ich gar nicht aus. Das Herzrasen ist erstmalig im letzten Jahr aufgetreten. Ganz plötzlich. In der Notaufnahme wurde alles untersucht und nichts gefunden. Es wurde auf eine versteckte Schilddrüsenüberfunktion zurückgeführt. Verschiedene Labortests wurden gemacht. Die haben das aber nicht bestätigt. Scheint alles in Ordnung zu sein. Erneute Herzuntersuchungen und Röntgen waren zum Glück weiterhin gut. Herztabletten habe ich dennoch bekommen. Aktuell versuche ich die berufliche Wiedereingliederung. Aber ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll. Herr Dr. Löhde, ich kann das einfach nicht mehr!“
Viele Gespräche mit meinen Patienten zeigen, welche weitreichenden persönlichen und gesellschaftlichen Folgen ein Zwerchfellbruch haben kann: Ein 15 jähriges Mädchen verpasste ein ganzes Schuljahr und lag neun Monate in der Psychiatrie einer Universitätsklinik, weil ihre angeborene Hiatushernie mit Bulämie verwechselt wurde. Ein 6 Jähriger Junge wurde über Jahre fehlbehandelt, bis die Speiseröhre durch so schwere Entzündungen vernarbt war, dass sie immer wieder mit Gewalt geweitet werden musste, um ihm das Schlucken zu ermöglichen. Die Zeit der Schule verbrachte er im Krankenbett. Es gibt derlei viele traurige Lebensgeschichten, die über die Zeit an mich herangetragen wurden. Aus ärztlicher Sicht gilt es unbedingt, die enorme Tragweite dieser Erkrankung zu erkennen bei Erwachsenen aber auch bei Kindern und Säuglingen und die richtigen Behandlungsschritte einzuleiten.
Ihr
